Veröffentlichung vom 30.10.2020
In die Brexit-Verhandlungen ist seit letzter Woche wieder etwas Bewegung gekommen, so dass es neue Hoffnungen auf einen Deal gibt. Es bleibt zu hoffen, dass sich dabei die EU nicht von Johnson über den Tisch ziehen lässt. In der Berichterstattung wird immer wieder auf die katastrophalen Folgen eines drohenden No-Deal-Brexits auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU hingewiesen, dadurch wird suggeriert, dass bei einem Deal dagegen keine großen Probleme zu erwarten seien. Man kann deshalb den Eindruck gewinnen, dass zur Vermeidung des harten Brexits auch (zu) weitgehende Zugeständnisse der EU gerechtfertigt wären.
Dieses ist aber nicht der Fall! Denn was bringt der Deal? Im Wesentlichen ein Freihandelsabkommen, wie es die EU auch mit vielen anderen Staaten abgeschlossen hat. Außerdem - bedingt durch die räumliche Nähe und die enge wirtschaftliche und politische Verflechtung (s. Grafik) - etliche Sonderregelungen für die weitere Zusammenarbeit, wie z.B. Fischereirechte. Gerade diese Sonderregelungen machen die laufenden Verhandlungen schwierig, obwohl zum Beispiel die britische Fischereiwirtschaft weniger Umsatz macht als das Kaufhaus Harrods in London. Hier spielen wohl mehr populistische als wirtschaftliche Argumente eine Rolle.
Was bedeutet aber ein Freihandelsabkommen? Beim Im- oder Export von oder nach Großbritannien sind dennoch ab dem 1.1.2021 alle Zollformalitäten wie mit jeden anderen Drittland durchzuführen, wie sie in der ersten Ausgabe dieser Newsletter-Reihe beschrieben wurden. Das ist zwar kein Weltuntergang, schließlich ist dieses auch beim Handel mit so wichtigen Partnerländern wie USA, Japan oder China durchzuführen, aber es ist eben ein Verwaltungsaufwand, der erhebliche Kosten verursacht. Im Falle Großbritanniens ist allerdings zu befürchten, dass es zusätzlich zu langen Staus an der Grenze und damit Versorgungsengpässen (wohl eher in Großbritannien als in der EU) kommt, da nach Einschätzung von vielen Fachleuten Großbritannien nicht die notwendigen Kapazitäten in der Zollverwaltung aufgebaut hat. Diese Problematik würde durch einen Deal also nicht entschärft.
Entfallen bei einem Deal die Zollabgaben, die in der zweiten und dritten Ausgabe dieses Newsletter- Reihe behandelt wurden? Nicht in allen Fällen! Wie in jedem Freihandelsabkommen wird die Zollbefreiung (Präferenz) nur gewährt werden, wenn es sich um Ursprungsware aus dem jeweiligen Partnergebiet handelt. Dieser präferenzielle Ursprung ist an die Erfüllung von teilweise komplizierten Regeln gebunden, die durch eine Präferenzkalkulation nachzuweisen ist. Der Aufwand hierfür ist nicht zu unterschätzen und führt sogar dazu, dass in der Praxis etliche Unternehmen beim Handel mit Staaten, für die ein Freihandelsabkommen mit der EU existiert, die Zollvorteile nicht nutzen, weil für sie der Aufwand für den Ursprungsnachweis größer ist als die mögliche Zollersparnis. Solche Unternehmen dürften sich im Handel mit Großbritannien dann genauso verhalten.
Die Zollbefreiung gibt es also nicht zum Nulltarif; und für Waren, die die Ursprungsregeln nicht erfüllen, ist ohnehin der normale Zollsatz zu entrichten. Natürlich wäre ein Freihandelsabkommen vorteilhaft, und durch eine gute betriebliche Organisation und geeignete IT-Unterstützung ist der Aufwand für die Präferenzkalkulation auch überschaubar, so dass sich die Inanspruchnahme der Zollvorteile in der Regel lohnt, aber die Schreckensszenarien, die für einem harten Brexit an die Wand gemalt werden, sind im Vergleich mit der durch ein Abkommen erreichbaren Situation (s.o.) auf diesem Gebiet doch übertrieben. In anderen Gebieten, z.B. nichttarifäre Handelshemmnisse, gegenseitiger Marktzugang, Zulassungen für das In-Verkehr-Bringen von Waren usw. ist dagegen der Unterschied zwischen Deal und No-Deal deutlich größer, wie in den noch folgenden Newslettern ausgeführt werden wird.
Welche Ursprungsregeln werden denn im Falle eines Deals ab 2021 zu beachten sein? Das kann man noch nicht sagen! In den bis jetzt veröffentlichten Vertragsentwürfen der EU und Großbritanniens sind nur allgemeine Regeln für den Ursprung enthalten, wie es auch in anderen Freihandelsabkommen üblich ist (u.a. zu vollständig erzeugten oder gewonnenen Waren, zu grundsätzlich nicht ausreichenden Behandlungen, zu allgemeinen Toleranzen, zu Kumulierungen usw.). Hier scheinen die Verhandlungspositionen auch nicht zu weit auseinander zu liegen. Der Anhang mit den konkreten Listenregeln für die einzelnen Warengruppen (Zolltarifnummern) ist in beiden Entwürfen jedoch noch leer! Es ist möglich, dass man sich an den Regeln im CETA-Abkommen mit Kanada orientieren wird, aber in diese Regeln spielen handels- und industriepolitische Interessen der Partnerländer stark hinein, so dass wohl der systematische Aufbau dem CETA-Abkommen ähnlich sein könnte, aber in den einzelnen, konkreten Regelungen auch deutliche Abweichungen möglich sind.
Jedenfalls kann ein Unternehmen derzeit noch nicht ermitteln, ob seine Produkte im Handel mit Großbritannien ab 2021 präferenzberechtigt sein werden, falls es noch zu einem Deal kommt. Die Vorbereitungszeit ist also knapp!
Aber auch die Zollpräferenzen mit allen anderen Staaten, mit denen die EU wechselseitige Freihandelsabkommen abgeschlossen hat, sind vom Brexit betroffen, und zwar ganz unabhängig davon, ob es noch einen Deal geben wird oder nicht. Denn für diese Abkommen ist Großbritannien in jedem Fall nicht mehr Teil der EU (eigentlich gilt das bereits seit dem 1.2.2020, die Übergangsphase ist eine rechtliche Grauzone). Also ist Vormaterial aus Großbritannien Drittlandsware und ursprungsschädlich. Bereits eine geringe Menge Vormaterial kann im ungünstigen Fall den bisher gegebenen präferentiellen Ursprung kippen, wie das folgende Beispiel zeigt:
Ein Unternehmen produziert in Deutschland einen 25 kg schweren, konfektionierten Kabelsatz mit Steckern (Kabelbaum), der Ab-Werk-Preis beträgt 100 €. Ein Teil dieser Kabelbäume ist für den Export in die Schweiz bestimmt. Im Kabelbaum (Zolltarifnummer 85444290) sei folgendes Material enthalten:
Material |
Zolltarifnummer |
Wert |
Ursprung |
Standardkabel |
85444995 |
37,50 € |
Türkei |
Koaxialkabel |
85442000 |
3,50 € |
England |
Standardstecker |
85366990 |
18,90 € |
Österreich |
Koaxialstecker |
85366910 |
5,70 € |
Deutschland |
Nach der Listenregel im Abkommen mit der Schweiz für Produkte aus der HS-Position 8544 darf Vormaterial ohne EU-Ursprung mit einem Wert von bis zu 40% des Ab-Werk-Preise enthalten sein. Vor dem Brexit ist die Bedingung hier erfüllt, nur das Kabel aus der Türkei im Wert von 37,50 € hat keinen EU-Ursprung, und der Import in die Schweiz ist dadurch zollfrei. Nach dem Brexit kommt das Koaxialkabel aus England ursprungsschädlich hinzu, der Wert des Vormaterials ohne EU-Ursprung beträgt dann 41,00 €, so dass der Kabelbaum die Ursprungseigenschaft verliert und in der Schweiz ein Zoll von 17 Franken anfallen wird (Tarif 68 Franken pro 100 kg). Und bei Lieferungen an Kunden innerhalb der EU kann nicht mehr eine Lieferantenerklärung über den EU-Ursprung ausgestellt weder, weder für die Schweiz noch für viele andere Länder.
Hier wäre es also sinnvoll, für das Koaxialkabel einen Lieferanten innerhalb der EU zu suchen, selbst wenn der Einkaufspreis höher wäre.
Wir empfehlen Ihnen deshalb dringend, sich auf 2021 vorzubereiten und für die Produkte, die Sie exportieren oder für die Ihre Kunden Lieferantenerklärungen fordern, die Lieferketten und ggf. das eigene Produktionsnetzwerk zu überprüfen und bei Bedarf entsprechend umzubauen, also Alternativen für eine Lieferung aus Großbritannien zu suchen. Wir unterstützen Sie gerne bei allen Fragen rund um Zoll, Handelshemmnisse und Exportkontrolle und zusammen mit unseren Partnern auch bei der Optimierung der Lieferketten und der Verlagerung von Produktionsstätten.
Prof. Dr. Tilko Dietert, Lean Management Consulting, www.leanmanagementconsulting.de , Tel. 09831-619225, Mail tilko@dr-dietert.eu