Eine Einschätzung von Prof. Dr. Tilko Dietert vom 1.7.2020
Nachdem die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU stocken und Großbritannien wie angekündigt die Antragsfrist zur Verlängerung der Übergangsregelungen ungenutzt verstreichen ließ, deutet nun alles auf einen No-Deal-Brexit zum 31.12.2020 hin. Natürlich ist das auch für die EU eine bedauerliche Entwicklung, aber für die britischen Bürger ist es eine unverantwortliche Handlungsweise ihrer Regierung, ihr von der Corona-Krise ohnehin stark gebeuteltes Land in weitere, massive wirtschaftliche Schwierigkeiten zu treiben.
Selbst wenn es heute einen final verhandelten Vertragsentwurf gäbe – wovon wir leider weit entfernt sind –, wäre eine Ratifizierung und die Inkraftsetzung bis zum 1.1.2021 kaum noch möglich. Die üblichen Zeitabläufe seien am Beispiel Vietnam aufgezeigt: Die Verhandlungen wurden im Oktober 2012 aufgenommen, am 4. August 2015 wurde die grundsätzliche Einigung zwischen den Vertretern der EU-Kommission und der vietnamesischen Regierung bekannt gegeben, die genaue Ausformulierung der Vertragstexte erfolgte bis September 2018, und nach der beiderseitigen Ratifizierung wird nun das Abkommen zum August 2020 in Kraft treten. Und das ganze Verfahren hat zwischen Verhandlungspartner stattgefunden, die beide ein Interesse am Zustandekommen des Abkommens hatten und sich nicht übervorteilen wollten.
Notfalls mag es schneller gehen, z.B. wurde das Übergangsabkommen mit Großbritannien zum Jahreswechsel 2019/20 deutlich schneller verhandelt und beidseitig ratifiziert, dieses war aber inhaltlich nicht so brisant, weil es zunächst im Wesentlichen eine Fortsetzung der bisherigen Regelungen bedeutet, außer dass Großbritannien nicht mehr in den EU-Gremien vertreten ist, und für einen überschaubaren Zeitraum von 11 Monaten gilt. Aber selbst über dieses Abkommen gibt es schon Streit mit Großbritannien (und innerhalb Großbritanniens), wie man an den Diskussionen über die Grenze durch die irische See sehen kann. Und es wurden in der Eile Regelungen getroffen, die rechtlich nicht haltbar sind, z.B. wurde die Anwendbarkeit der Freihandelsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten (z.B. Japan, Kanada, Mexiko u.v.m.) auf Großbritannien für die Übergangsfrist vereinbart, obwohl das die EU gar nicht hätte zusagen dürfen, ohne vorher das Einverständnis der jeweiligen Drittstaaten einzuholen. Man geht offenbar davon aus, dass die Vertragsstaaten dieses stillschweigend akzeptieren, um sich nicht mit der großen EU anzulegen.
Es bleibt aber zu hoffen, dass sich die EU nicht durch den Zeitdruck und die Erpressungsversuche von Prime Minister Johnson mit einem unvorteilhaften Abkommen übertölpeln lässt. Theresa May hatte im Januar 2017 den Ausspruch „no deal is better than a bad deal“ geprägt, den sich dann Johnson, Farage u.a. gerne angeeignet haben. Das ist grundsätzlich richtig, natürlich kann es nicht sinnvoll sein, ein Abkommen abzuschließen, mit dem man schlechter dasteht als ohne Abkommen. Das gilt aber nicht nur für Großbritannien und Johnson, sondern auch für die EU. Die EU ist Großbritannien in den bisherigen Verhandlungen sehr weit (vielleicht schon zu weit) entgegengekommen, aber es ist offenbar weiterhin Johnsons Bestreben, der EU einen Vertrag abzuluchsen, zu dem die EU „no deal is better than a bad deal“ sagen müsste. Zu einem solchen Abkommen sollte es nicht kommen, und da es von allen 27 Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müsste, wird es hoffentlich Staaten geben, die sich nicht über den Tisch ziehen lassen wollen.
Nachdem Johnson also keine Anzeichen erkennen lässt, über einen für beiden Seiten fairen Vertrag verhandeln zu wollen, muss man von einem harten Brexit ohne Vertrag zum 31.12.2020 ausgehen. Was bedeutet aber das Ende der Übergangsregelung, ob mit oder ohne Deal, für die produzierenden Unternehmen? Neben den Erschwernissen im Finanz- und juristischen Bereich[1], auf die hier nicht eingegangen werden soll, kommen etliche Herausforderungen auf Sie zu. Selbst mit einem Freihandelsabkommen wäre u.a. folgende Konsequenzen zu beachten:
- Es entstehen Kosten (Gebühren, Vergütung für Dienstleister) und eigener Verwaltungsaufwand für die Zollabwicklung
- Da es fraglich ist, ob auf britischer Seite genügend Zollbeamte zur Verfügung stehen werden, ist damit zu rechnen, dass beim Grenzübertritt erhebliche Wartezeiten auftreten, was zeitlich eng getaktete Lieferketten gefährdet
- Alle Produkte aus Großbritannien, für die eine Zulassung für das In-Verkehr-Bringen erforderlich ist (z.B. CE-Kennzeichen für diverse Produktbereiche mit jeweils unterschiedlichen Richtlinien, allgemeine Sicherheitsanforderungen nach Richtlinie 2001/95/EG, diverse nationale Regelungen, z.B. für Lebensmittel, Chemikalien, …, die zwischen den EU-Staaten gegenseitig anerkannt werden, usw.), verlieren diese Zulassung. Der Importeur muss sich ggf. selbst um die Zulassung in der EU kümmern. Umgekehrt gilt dieses für den Export von EU-Produkten nach Großbritannien.[2]
- Bei der zollrechtlichen Ursprungsermittlung (Präferenzkalkulation) sind britische Vorprodukte Drittlandsmaterial und gefährden damit die Ursprungseigenschaft der damit in der EU hergestellten Produkte, so dass diese beim Export in andere Staaten, mit denen Freihandelsabkommen bestehen, eventuell nicht mehr die Zollvorteile genießen.
- Bei Produkten, die der Dual-Use-Verordnung[3] o.ä. unterliegen, also sowohl militärisch als auch zivil genutzt[4] werden können und deshalb beim Export in Drittstaaten einer Ausfuhrgenehmigung bedürfen, wird dann auch für den Export nach Großbritannien eine solche Genehmigung benötigt. Diese dürfte zwar in den meisten Fällen erteilt werden, aber es entsteht ein Verwaltungsaufwand für die Beantragung und den zu führenden Endverbleibsnachweis.
- Die Arbeitnehmerfreizügigkeit endet[5], wenn also ein Unternehmen Mitarbeiter aus der EU in eine britische Tochtergesellschaft entsandt will, entsteht ein erheblicher Verwaltungsaufwand.
Bei einem No-Deal-Brexit kommen hinzu:
- Beim Warenverkehr zwischen EU und Großbritannien fällt in beide Richtungen Zoll an, z.B. auf PKW 10%
- Es können von beiden Seiten Mengenbeschränkungen für Im- oder Exporte angeordnet werden (Marktordnungsmaßnahmen)
- Eine gegenseitige Anerkennung von Zulassungen ist ohne Abkommen ausgeschlossen
- Unter Umständen wird für Reisen nach Großbritannien sogar ein Visum notwendig
Ohne Deal wird der Brexit teurer, aber die meisten negativen Konsequenzen lassen sich auch durch ein Abkommen nicht aus der Welt schaffen. Wir empfehlen deshalb, sich dringend auf 2021
vorzubereiten und die Lieferketten und das eigene Produktionsnetzwerk entsprechend umzubauen. Hierbei können wir mit unseren Partnern des "Netzwerk Industriekompetenz" gerne unterstützen.
[1] Z.B. ist dann in der EU nicht mehr die Firmierung als britische Ltd. möglich
[2] Eventuell könnte in einem weitreichenden Abkommen eine gegenseitige Anerkennung der Zulassungen vereinbart werden, aber gerade das ist oft ein besonders strittiger Punkt (man erinnere sich z.B. an die Chlor-Hühnchen-Diskussion mit der USA).
[3] Dieses gilt erst recht für Waffen
[4] Das können recht harmlose Produkte sein, z.B. lange Kabelbinder (als Handfessel verwendbar)
[5] Das ist seitens Großbritannien die Hauptmotivation für den Brexit gewesen